Frankfurter Schule: Dialektik der Aufklärung

Frankfurter Schule: Dialektik der Aufklärung
Frankfurter Schule: Dialektik der Aufklärung
 
Seit je« - so beginnt die »Dialektik der Aufklärung« von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno -, »hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«. Um die Erklärung dieser Diskrepanz ging es den Autoren in ihrem Buch. Entsprechend heißt es in der Vorrede: »Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«
 
Und diese Absicht lag nicht nur der »Dialektik der Aufklärung« zugrunde, die zwischen 1939 und 1944 gemeinsam von Horkheimer und Adorno im US-amerikanischen Exil geschrieben und 1947 in Amsterdam gedruckt wurde, sondern war, in einem weiteren Sinn, zugleich die leitende Intention der Frankfurter Schule insgesamt. Die Bezeichnung »Frankfurter Schule« kam zwar erst später, in den Sechzigerjahren, auf, als die Lehrtätigkeit Horkheimers und Adornos einen starken Anziehungspunkt für die junge Intelligenz Nachkriegsdeutschlands bildete. Ihr unverwechselbares Profil aber hatte die Frankfurter Schule schon während der Dreißiger- und Vierzigerjahre erhalten, als die Autoren im Exil lebten.
 
Horkheimer prägte für die der Frankfurter Schule eigene Form der Sozialphilosophie den Ausdruck »kritische Theorie (der Gesellschaft)«. Er bezeichnete damit einerseits einen allgemeineren Typus von Theorie, gab damit andererseits aber auch der von ihm vertretenen Gesellschaftstheorie einen Namen und ein Programm. Von »traditioneller« Theorie sollte sich eine »kritische« dadurch unterscheiden, dass sie die in die Begriffe eingegangenen, dort aber nicht mehr sichtbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen, Vorentscheidungen und Intentionen in die Reflexion mit aufnahm, und zwar unter der Perspektive der Veränderbarkeit der herrschenden Gesellschaftsformation zum Besseren. »Kritische« Theorie schloss »traditionelle« nicht aus, sondern hatte sie zur Voraussetzung, ohne aber deren Grenzen anzuerkennen. Dieser Theorietypus war für Horkheimer paradigmatisch in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verkörpert, wenn auch keineswegs auf diese beschränkt. Mit dem Begriff der »Kritik« stützte er sich in entscheidendem Maße auch auf die philosophische Tradition der französischen Aufklärung, der kantischen Erkenntniskritik, des hegelschen dialektischen und des nietzscheschen genealogischen Denkens und nicht zuletzt der freudschen Psychoanalyse.
 
Anfänglich war für die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der mit diesem verbundenen sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen bestimmend gewesen. »Noch das äußerste Entsetzen heute«, schrieb Horkheimer 1938 rückblickend, »hat seinen Ursprung nicht 1933, sondern 1919 in der Erschießung von Arbeitern und Intellektuellen durch die feudalen Helfershelfer der ersten Republik«. Warum die sozialistischen Erwartungen der frühen Weimarer Republik sich nicht erfüllten, warum die ökonomische Krise sich nicht in eine einheitliche und schlagkräftige, demokratisch-sozialistische Politik ummünzen ließ - was eine Krise des traditionell marxistischen Denkens zur Folge hatte -, warum schließlich der Aufstieg des autoritären Führerstaates unaufhaltsam war: dies waren die Leitfragen der frühen kritischen Theorie.
 
Die Durchführung dieses Forschungsansatzes war aufs engste mit dem Institut für Sozialforschung und seinen Mitarbeitern verbunden, das 1923 als private Stiftung, aber in Anbindung an die noch junge Universität Frankfurt am Main gegründet worden war und 1934 in New York eine neue Heimat fand. Die Krise der marxistischen Gesellschaftstheorie der Zwanzigerjahre schien Horkheimer nämlich nur überwindbar durch eine philosophisch angeleitete Verknüpfung der politisch-ökonomischen Theorie mit den fortgeschrittensten Methoden und Ergebnissen der Sozialwissenschaften in ihrer ganzen Breite - ein Unterfangen, das nur in Form eines kollektiven und interdisziplinären Forschungsprogramms realisierbar schien. Dieses Progamm nahm, wenigstens in Umrissen, in den empirischen Projekten des Instituts für Sozialforschung und in den Aufsätzen der »Zeitschrift für Sozialforschung« (1932-41) Gestalt an. Das allgemeine Thema der in der Zeitschrift veröffentlichten Arbeiten, soweit sie aus dem Mitarbeiterkreis des Instituts selbst stammten, war eine »materialistische« Theorie der Gesellschaft. Die sozioökonomischen Strukturen wurden dabei zu drei Bereichen in Beziehung gesetzt: zur geistigen Kultur, zu psychischen Dispositionen und zu politischen Institutionen.
 
So untersuchte Adorno, der nicht nur Philosoph und Soziologe, sondern auch Musiktheoretiker und Komponist war, den gesellschaftlichen Gehalt musikalischer Werke, sei es der künstlerisch fortgeschrittensten Art, sei es des Unterhaltungsgenres. Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Walter Benjamin analysierte insbesondere literarische Werke, aber auch die bildende Kunst, die Fotografie, den Film und den Städtebau in geschichtsphilosophischer Perspektive. Der Psychoanalytiker Erich Fromm entwarf eine »materialistische Sozialpsychologie«, mit der die Formung der psychischen Triebstrukturen durch die ökonomischen Lebensbedingungen der Individuen nachgewiesen werden sollte. Der Ökonom Friedrich Pollock, der zugleich die Verwaltung des Instituts leitete, befasste sich vor allem mit neuen staatlichen Formen der Steuerung ökonomischer Abläufe. Dabei interpretierte er den Nationalsozialismus als politische Form des hoch entwickelten Monopolkapitalismus.
 
Weitere wichtige Mitarbeiter des Instituts und der Zeitschrift waren der Philosoph Herbert Marcuse, der Literatursoziologe Leo Löwenthal, der auch die Zeitschrift redigierte, der Historiker und Sinologe Karl August Wittfogel sowie die Juristen und Politologen Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer. Wenn diese durchweg eigenständigen Autoren sich auch keineswegs alle gleichermaßen auf das gemeinsame Forschungsprogramm verpflichten ließen, so fungierte doch die kritische Theorie für sie, zumindest in der Zeit ihrer Zusammenarbeit, als verbindendes Element. In ihr wurden die philosophischen Voraussetzungen und Ziele formuliert, an denen sich die jeweiligen Einzeluntersuchungen orientierten und durch die sie sich aufeinander beziehen sollten.
 
Die ersten sozialpsychologischen Untersuchungen des Instituts am Ende der Weimarer Republik waren der politischen Einstellung von Arbeitern und Angestellten sowie den Veränderungen in den Sozialisationsbedingungen und der gesellschaftlichen Funktion von Autorität gewidmet. Diese Forschungen brachten wichtige Erkenntnisse über die Diskrepanz zwischen manifesten, politisch fortschrittlichen Einstellungen und latenten, autoritären Charakterstrukturen. Damit ließen sich auch das Zurückweichen der Linken und die weitgehend ungehinderte Durchsetzung des Nationalsozialismus nach 1933 begreifen.
 
Die spätere Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule wurde durch die Erfahrung der nationalsozialistischen Massenmorde zwar nicht erst hervorgerufen, aber doch dazu gebracht, ihre bereits zuvor formulierten Grundpositionen und Fragestellungen weiter zuzuspitzen. Das von Horkheimer 1938 so bezeichnete »äußerste Entsetzen« erwies sich noch als unendlich steigerungsfähig. Die »Dialektik der Aufklärung«, deren geschichtsphilosophischer Entwurf als theoretischer Hintergrund für die gleichzeitig konzipierten, weitläufigen empirischen Untersuchungen über Vorurteile, Demagogie, Autoritarismus und Antisemitismus fungieren sollte, verstand den Nationalsozialismus als Resultat eines misslungenen Modernisierungsschubes. Dieser erschien darin als Entwicklungs- und Regressionsmöglichkeit moderner Gesellschaften überhaupt, nämlich als Versuch einer gewaltsamen Wiederherstellung der in der atomisierten Gesellschaft zerfallenen Orientierungen durch Terror und aggressive Projektion der unterdrückten Anteile auf innere und äußere Feinde. Darüber hinaus betrachteten ihn die Autoren Horkheimer und Adorno als Manifestation destruktiver Tendenzen, die bis in die Urgeschichte der Zivilisation zurückreichen. Damit bedienten sie sich seiner gleichsam als Prisma, mit dem der abendländische »Geist« rückblickend in seine verborgenen Komponenten zerlegt werden konnte.
 
Für die verschiedenen Analysen der »Dialektik der Aufklärung« war die geschichtsphilosophische These leitend, dass der durch Wissenschaft und Technik vorangetriebene Prozess der »Aufklärung« (im weitesten Sinn) dazu tendiert, seine eigenen emanzipatorischen Voraussetzungen und Anteile zu zerstören. Dieser Rahmen war so weit angelegt, dass er auch Platz bot für eine kritische Theorie anderer zeitgenössischer Vergesellschaftungsformen. Besonders bedeutsam war dabei die Untersuchung der nach kapitalistischen Prinzipien verfahrenden Unterhaltungskultur in den USA. Die Autoren, die seit Beginn der Vierzigerjahre nahe Hollywood, dem Zentrum der amerikanischen »Kulturindustrie«, lebten, sahen in dieser ein für die gesamtgesellschaftliche Tendenz signifikantes Element der Schwächung oder Verhinderung autonomer Individualität und kritischen Denkens.
 
Die Diagnose einer planmäßig-widervernünftigen »verwalteten Welt« blieb auch für viele nachfolgende Untersuchungen der Frankfurter Schule bestimmend. Und es war die für sie charakteristische Kombination von Kritik an manifester Herrschaft und unterschwelliger Manipulation in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft und Kultur, die der kritischen Theorie in den Sechzigerjahren auch zu einer breiteren politischen Wirkung verhelfen sollte, insbesondere in Gestalt von Marcuses Ideologiekritik der »eindimensionalen« Gesellschaft des Spätkapitalismus. In den antiautoritären Bewegungen dieser Zeit wurde auch versucht, Positionen der früheren kritischen Theorie unmittelbar auf die Gegenwart anzuwenden. Das ging jedoch nicht ohne Distanzierung von den späteren Intentionen der kritischen Theoretiker selbst, denen man vorwarf, politisch konservativ geworden zu sein.
 
Prof. Dr. Gunzelin Schmid Noerr
 
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.
 
Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 2-31996—98.
 Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. Taschenbuchausgabe München 51997.

Universal-Lexikon. 2012.

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